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Schlagwort: Verwertbarkeit

OLG Frankfurt schlägt eine Fliege mit drei Klappen: Keine Privatisierung von Verkehrsmessungen!

Heute stelle ich drei aktuelle Entscheidungen des OLG Frankfurt vor, von denen besonders die dritte Entscheidung  die Gemüter erregen wird und das zu Recht.

Im Einzelnen:

  1. Keine Geschwindigkeitsmessung durch Private (OLG Frankfurt a. M., Beschl. v. 6.11.2019 – 2 Ss-OWi 942/19)
  2. Kein Knöllchen durch Private (OLG Frankfurt, Beschl. v. 2.1.2020 – 2 Ss 40/19)
  3. Verurteilung wegen Fälschung eines Messprotokolls zur Verschleierung von „privaten Messungen“ (OLG Frankfurt, Beschl. v. 2.1.2020 – 2 Ss 40/19)

Zu den einzelnen Entscheidungen:

  1. Keine Geschwindigkeitsmessung durch Private – OLG Frankfurt

Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat entschieden, dass eine Verkehrsüberwachung – im konkreten Fall eine Geschwindigkeitsmessung – durch private Dienstleister unzulässig ist (OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 6.11.2019 – 2 Ss-OWi 942/19).

Rechtsfolge: Unverwertbarkeit des Messergebnisses, also Freispruch des Betroffenen.

Der Betroffenen hatte einen Bußgeldbescheid wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung außerhalb geschlossener Ortschaften erhalten.

Dem Bescheid lag eine Geschwindigkeitsmessung durch einen Angestellten einer privaten GmbH zugrunde.

Die Gemeinde hatte mit dieser GmbH einen Vertrag  zum Zweck der „Unterstützung bei der Durchführung von Geschwindigkeitsprotokollen, allgemeine Datenverarbeitung und Erstellung von Messberichten“ geschlossen. Der „private Messbeamte“ war also im Rahmen einer Arbeitnehmerüberlassung für die Gemeinde tätig.

Das Amtsgericht Gelnhausen sprach den Betroffenen frei wegen verbotener Tätigkeit eines Privaten bei der hoheitlichen Aufgabe der Geschwindigkeitsüberwachung.

Die hiergegen von der Staatsanwaltschaft Hanau eingelegte Rechtsbeschwerde hat das OLG Frankfurt a. M. zurückgewiesen.

Aus den Urteilsgründen:

„Die vorliegend durchgeführte Verkehrsüberwachung durch den gemeinsamen Ordnungsbehördenbezirk der Gemeinden Freigericht und Hasselroth ist gesetzeswidrig. Die im hoheitlichen Auftrag von einer privaten Person durchgeführte Geschwindigkeitsmessung hat keine Rechtsgrundlage. In der Folge hätte das Regierungspräsidium Kassel keinen Bußgeldbescheid erlassen dürfen. … In der Folge dieses gesetzwidrigen Handelns sind sämtliche Verkehrsüberwachungen des gemeinsamen Ordnungsbehördenbezirks der Gemeinden Freigericht und Hasselroth mindestens seit dem 23.03.2017 unzulässig … Darüber hinaus dürfte dies auch für die Gemeinden Brachttal und Nidderau gelten, da der Zeuge dort…ebenfalls unter den genannten Bedingungen tätig war“. (OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 6.11.2019, Az. 2 Ss-OWi 942/19)

  1. Kein Knöllchen durch Private – OLG Frankfurt, Beschl. v. 2.1.2020 – 2 Ss 40/19

Die Frage, ob auch Verstöße im ruhenden Verkehr, also Parkverstöße, umgangssprachlich: Knöllchen, einem Verwertungsverbot unterliegen, wenn die Knöllchen von einem Privatunternehmen verteilt wurden, hat das OLG Frankfurt am Main ebenfalls bejaht (OLG Frankfurt, a. a. O.).

Ebenso wie die Auswertung von Messungen, ist die Erhebung der Messdaten, also die Durchführung der Messung hoheitliche Aufgabe. Werden diese Aufgaben durch Private durchgeführt, sollte man sich verteidigen.

Zur Erinnerung: Das OLG des Saarlandes hat zum Thema „Auswertung von Geschwindigkeitsmessungen durch Private“ bereits im Jahr 2017 entschieden, dass das Vorgehen der Kreisstadt Neunkirchen rechtswidrig war und meinen Mandanten freigesprochen:

Freispruch! OLG Saarbrücken verwirft Geschwindigkeitsmessungen der Stadt Neunkirchen

Wie aber finde ich als Betroffener heraus, ob die Messung von einem privaten Unternehmen durchgeführt wurde oder nicht?

Hierzu ist zunächst durch einen Verteidiger Akteneinsicht zu nehmen.

Bislang konnte man mit dem nötigen Glauben an den Gutwill der Behörde, anhand des Messprotokolls und der Schulungsnachweise feststellen, ob ein Bediensteter der Stadt bzw. ein Beamter die Messung durchgeführt hat. Zudem kann man eine Vernehmung der Messbeamten beantragen. Eine solche Vernehmung findet auch regelmäßig statt.

Dass man nie auslernt, zeigt die letzte in diesem Themenkomplex zu erwähnende Entscheidung des OLG Frankfurt:

  1. Verurteilung wegen Fälschung eines Messprotokolls zur Verschleierung von „privaten Messungen“

Was man da liest, schlägt dem Fass den Boden aus.

 

Das OLG Frankfurt hat in einer Strafsache wegen Urkundenfälschung als Revisionsinstanz entschieden:

 

„Die von einem „privaten Dienstleister“ vorgenommene gesetzeswidrige Verkehrsmessung und das dabei von ihm erstellte Messprotokoll, das vorher von dem zuständigen Ordnungspolizeibeamten blanko unterschrieben worden war, damit verschleiert wird, dass die Verkehrsmessung nicht – wie gesetzlich vorgesehen – von der Polizei durchgeführt worden ist, stellt nicht nur eine schriftliche Lüge dar, sondern eine strafbare Falschbeurkundung im Amt durch den Ordnungspolizeibeamten, zu dem der private Dienstleister Beihilfe geleistet hat“.  (OLG Frankfurt, Beschl. v. 2.1.2020 – 2 Ss 40/19)

Folgendes war passiert:

 

„Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen hat der Angeklagte A als „privater Dienstleister“ gesetzeswidrig Verkehrsmessungen vorgenommen, (vor-)ausgewertet und Messprotokolle erstellt, die in einer Vielzahl von Bußgeld- und Verwarngeldverfahren als Beweismittel Verwendung gefunden haben. Dies erfolgte im bewusstem, kollusiven Zusammenwirken mit dem Angeklagten B als zuständigem Ordnungspolizeibeamten, der zur Verschleierung dem Angeklagten A eine von ihm unterzeichnete Kopie eines Blankomessprotokolls zur Verfügung gestellt hat. Da in den vom Angeklagten A erstellten und digitalisierte Messprotokollen der Angeklagte B als Messbeamter aufgeführt war, sollte auf diese Weise suggeriert werden, dass die Messungen von dem Hoheitsträger durchgeführt wurden. Auf diese Weise wurde im Rahmen der gesamten elektronischen Aktenführung – was beide Angeklagte wussten – unter Täuschen der Zentralen Bußgeld- und Verwarnstelle in eine Vielzahl von Fällen Buß- und Verwarngelder erlassen, die so nicht hätten ergehen dürfen.“ (OLG Frankfurt a. a. O.)

Die Verurteilten haben sich übrigens damit verteidigt, es liege keine Urkundenfälschung vor, da ein Messprotokoll keine Urkunde nach § 348 StGB darstelle.  Dieser Rechtsansicht hat das OLG Frankfurt eine klare Absage erteilt.

 

Fazit: Es soll keiner Behörde oder Gemeinde unterstellt werden, dass dort ebenfalls ein solches Vorgehen stattfindet. Nach dieser Entscheidung ist das allerdings auch nicht mehr auszuschließen. Wer in Verkehrsordnungswidrigkeiten verteidigt, sollte sich zukünftig nicht mehr mit dem Messprotokoll und den Schulungsnachweisen des Messbeamten zufrieden geben. Private Unternehmen, die meist als Kapitalgesellschaften organisiert sind und damit den Zweck der Gewinnerzielung verfolgen, dürfen nicht Herren eines Bußgeldverfahrens werden, schon gar nicht heimlich und verdeckt.

 

Verschleierungen von Beteiligungen privater Unternehmen müssen aufgedeckt und angegriffen werden.

 

Verkehrsüberwachung ist eine hoheitliche Aufgabe. Sie soll der Verkehrssicherheit und nicht dem Gewinnstreben Privater dienen!

 

Blitzer verwertbar oder nicht? Ein kurzer Überblick über den aktuellen Sachstand.

Zwischenzeitlich schlug das Urteil des Saarländischen Verfassungsgerichts zur Unverwertbarkeit von Geschwindigkeitsmessungen – https://rechtsanwalt-weiser.de/raweiser/messungen-unverwertbar-saarl-verfg-hebt-verurteilung-auf/ – bereits – bei mehreren Obergerichten auf.

Hier ein kleiner Überblick:

OLG Zweibrücken zum Poliscan FM1

Das OLG Zweibrücken hat sich aktuell mit dem Traffistar
sondern mit dem Poliscan FM1 befasst. Da seit längerem auf der BAB 6 im Umkreis
von Kaiserslautern regelmäßig Anhänger aufgestellt werden, die mit diesem
Messgerät ausgestattet sind (Trailer), ist diese Entscheidung für mich und
meine Mandanten von großem Interesse.

Das OLG Zweibrücken hat ausgesprochen, dass eine nachträgliche Überprüfung der Messung, wie vom Saarländischen Verfassungsgericht gefordert, bei diesem Messsystem grundsätzlich möglich sei. Von daher ist die Verwertung der Polscan Trailermessungen in Rheinland-Pfalz weiterhin zulässig.

AG St. Ingbert

Das für das Saarland für Geschwindigkeitsverstöße zuständige
Amtsgericht St. Ingbert hat in einer aktuellen Entscheidung seinen Unmut
darüber geäußert, dass es die Traffistarverfahren einstellen muss, folgt aber
der eindeutigen Ansage aus Saarbrücken.

Für das Saarland gilt im Übrigen, dass derzeit Verfahren bei
folgenden Messsystemen regelmäßig eingestellt werden: Poliscan, Traffistar und Leivtec.
Gemäß ministerialer Anordnung darf – bis zu einem zu erwartenden Softwareupdate
– mit diesen Geräten auch nicht mehr gemessen werden.

OLG Karlsruhe

Das OLG Karlsruhe hat darauf hingewiesen, dass es an seiner
bisherigen Rechtsprechung festhalten wird, wonach es nicht darauf ankommt, ob
eine nachträgliche Überprüfbarkeit der Messdateien ermöglicht wird oder nicht.
Nach Ansicht des OLG Karlsruhe liegt in jedem Falle ein standardisiertes
Messverfahren vor.

OLG Stuttgart

Das OLG Stuttgart hatte einen entspreche Rechtsbeschwerde zur
Entscheidung vorliegen. Allerdings hatte die dortige Betroffene sich während
des Verfahrens nicht um die Messdateien bemüht und demzufolge lag auch kein
Verstoß gegen ein faires Verfahren vor. Schließlich fehlte es auch an der
fristgerecht eingereichten Verfahrensrüge. Die eigentliche Frage der
Verwertbarkeit konnte das OLG Stuttgart daher offenlassen. Für
Baden-Württemberg lieg eine recht eindeutige Stellungnahme des Verkehrsministeriums
vor:

https://vm.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse/pressemitteilung/pid/kein-freibrief-fuer-temposuender-im-land/

Jenoptik selbst hat bereits angekündigt, ein Softwareupdate
für das Traffistar S350, das kurzfristig ohnehin angestanden hätte, vorerst zu
verschieben und eine umfassendere Option in den Markt zu bringen.

Die Tendenz:

Dem positiven Beispiel des schönen Bundeslandes Saarland („Kleinbonum“), in dem ich meine beiden Büros betreiben darf, folgen die übrigen Bundesländer wohl nicht. Das war leider absehbar.

Messungen unverwertbar! Saarl. VerfG hebt Verurteilung auf!

Der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes hat mit Urteil vom 5.7.2019 – Lv 7/17 – entschieden, dass die Nichtspeicherung von Rohmessdaten bzw. das Nichtzurverfügungstellen das Grundrecht des Betroffenen auf ein faires gerichtliches Verfahren (Art. 60 Abs. 1 der Saarländischen Verfassung i.V.m. Art 20 der Saarländischen Verfassung) verletzt. Gegenstand des Urteils ist das Messverfahren Traffistar S350 der Firma Jenoptik.

Das Urteil finden Sie im Volltext hier:

https://rechtsanwalt-weiser.de/raweiser/wp-content/uploads/2019/07/2019-Lv-7-17-Anonym.pdf

Diese Entscheidung hatte sich nach der mündlichen Verhandlung vom 9.5.2019 abgezeichnet::

https://rechtsanwalt-weiser.de/raweiser/geblitzt-sofort-einspruch-einlegen-messungen-im-saarland-sind-vermutlich-verfassungswidrig/

Das Saarlandische Verfassungsgericht führt aus:

Fehlt es an ihnen (Anmerk. d. Unterzeichners: den Rohmessdaten) und vermag sich eine Verurteilung nur auf das dokumentierte Messergebnis und das Lichtbild des aufgenommenen Kraftfahrzeugs und seines Fahrers zu stützen, so fehlt es nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofs an einem fairen rechtsstaatlichen Verfahren, wenn sich ein Betroffener wie hier – selbst ohne nähere Begründung – gegen das Messergebnis wendet und ein Fehlen von Rohmessdaten rügt. Eine Verurteilung kann dann auf dieser Grundlage nicht erfolgen.

Saarl. VerfG a. a. O.

Der Saarl. VerfG hat die Entscheidungen des Amtsgerichts Saarbrücken und des Saarländischen Oberlandesgerichts aufgehoben, die gegen den Betroffenen ergangen waren.

Wenn zu den rechtlichen Rahmenbedingungen eines standardisierten Messverfahrens zählt, sich mit Einwänden gegen seine Ergebnisse wenden zu dürfen, so darf einem Betroffenen nicht von vornherein abgeschnitten werden, solche Einwände erst zu ermitteln.

Saarl. VerfG a. a. O.

Damit löst der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes den von einigen Verteidigern seit Jahren angeprangerten „Teufelskreis“ bei standardisierten Messverfahren.

Ist ein Messverfahren von der Rechtsprechung als standardisiert anerkannt, muss der Betroffene nämlich konkrete Zweifel an der Ordnungsgemäßheit der Messung aufzeigen, um das Gericht zu veranlassen, die Messung in seinem Einzelfall auf ihre Ordnungsgemäßheit hin zu überprüfen.

Nach richtiger Ansicht des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes ist er hierfür aber gerade auf die Zurverfügungstellung der Messdateien angewiesen.

Der Verfasssungsgerichtshof des Saarlandes zieht einen Vergleich zu DNA-Beweisen und Blutprobenanalysen:

Solange eine Messung aber nicht durch die Bereitstellung der Datensätze – einschließlich auch der Statistikdatei – einer Nachprüfung durch die Verteidigung des Betroffenen zugänglich ist, würde der alleinige Verweis auf die Verlässlichkeit der Konformitätsprüfung – die im Übrigen keiner öffentlichen Transparenz und keiner Kontrolle der von der Verwendung der Messgeräte Betroffenen unterliegt – schlicht bedeuten, dass Rechtsuchende auf Gedeih und Verderb der amtlichen Bestätigung der Zuverlässigkeit eines elektronischen Systems und der es steuernden Algorithmen ausgeliefert wären. Das ist nach der Überzeugung des Verfassungsgerichtshof weder bei Geschwindigkeitsmessungen noch in den Fällen anderer standardisierter Messverfahren – wie beispielsweise der Blutprobenanalyse und der DNAIdentitätsmusterfeststellung – rechtsstaatlich hinnehmbar. Auch in den genannten Beispielsfällen käme niemand auf den Gedanken, dass die untersuchten gesicherten Substanzen sofort nach ihrer Analyse vernichtet werden könnten und nachträglichen Zweifeln eines Beschuldigten an der Richtigkeit der Feststellungen nicht nachgegangen werden müsste, weil das Ergebnis der standardisierten Untersuchungen in aller Regel zutreffend sei.

Denn zu einer wirksamen Verteidigung gehört nicht nur, ein Gericht auf solche ihm ohnehin ins Auge fallenden Umstände aufmerksam zu machen, sondern nachforschen zu können, ob es bislang gerade nicht bekannte Zweifel an der Tragfähigkeit eines Vorwurfs gibt. Muss das Gericht die näheren technischen und physikalischen Umstände der Geschwindigkeitsmessung im Rahmen des standardisierten Messverfahrens nicht aufklären und bliebe die Aufklärung zugleich auch dem Betroffenen verwehrt, würde die Tatsachengrundlage der Verurteilung letztlich jeder gerichtlichen Überprüfung entzogen.

Saarl. VerfG a. a. O.

Damit sind Messungen, die mit dem Traffistar S350 der Firma Jenoptik im Saarland durchgeführt wurden und – wie allgemein üblich – auch im Saarland geahndet werden, derzeit nicht verwertbar, jedenfalls nicht, solange der Messgerätehersteller die Rohmessdaten nicht zur Verfügung stellt. Da die Software diese Daten nach wie vor löscht, jedenfalls ist das der aktuelle diesseitige Kenntnisstand, dürfte eine nachträgliche Zurverfügungstellung derzeit ausscheiden.

Die Rechtsfolge ist klar:

Sind die Ergebnisse des Messverfahrens mit dem Messgerät Traffistar 350S folglich wegen einer verfassungswidrigen Beschränkung des Rechts auf eine wirksame Verteidigung unverwertbar, sind die angegriffenen Entscheidungen aufzuheben. (Hervorh. d. Unterz.)

Saarl. VerfG a. a. O.

Der Saarländische Verfassungsgerichtshof macht des Weiteren eine unmissverständliche Ansage an die Gerichte des Saarlandes, vor allem also an das Amtsgericht St. Ingbert, das nach der Strukturreform praktisch alleine zuständig für solche Verfahren im Saarland ist, und das Oberlandesgericht des Saarlandes:

Gerichte des Saarlandes sind – vorbehaltlich einer abweichenden späteren Entscheidung eines Bundesgerichts oder des Bundesverfassungsgerichts – an die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes gebunden. Soweit dies lediglich einen konkreten Streitfall betrifft, ist allerdings aus gegebenem Anlass darauf hinzuweisen, dass in gleich gelagerten Streitfällen – vorbehaltlich der Zulassung eines Rechtsbehelfs zu einem Bundesgericht – der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes abweichende Entscheidungen saarländischer Instanzgerichte korrigieren wird. (Hervorh. d. Unterz.)

Saarl. VerfG a. a. O.

Sehr anschaulich hebt das Saarl. Verfassungsgericht die Bedeutung der Grundsätze des fairen Verfahrens und der Überprüfbarkeit staatlicher Sanktionen hervor, indem es ausführt:

Zu den grundlegenden rechtsstaatlichen Anforderungen an die Verurteilung einer Bürgerin oder eines Bürgers gehört, dass er die tatsächlichen Grundlagen seiner Verurteilung zur Kenntnis nehmen, sie in Zweifel ziehen und sie nachprüfen darf. Das gilt nicht nur in Fällen strafrechtlicher Sanktionen, sondern stets. Staatliches Handeln darf, so gering belastend es im Einzelfall sein mag, und so sehr ein Bedarf an routinisierten Entscheidungsprozessen besteht, in einem freiheitlichen Rechtsstaat für die Bürgerin und den Bürger nicht undurchschaubar sein; eine Verweisung darauf, dass alles schon seine Richtigkeit habe, würde ihn zum unmündigen Objekt staatlicher Verfügbarkeit machen. Daher gehören auch die grundsätzliche Nachvollziehbarkeit technischer Prozesse, die zu belastenden Erkenntnissen über eine Bürgerin oder einen Bürger führen, und ihre staatsferne Prüfbarkeit zu den Grundvoraussetzungen freiheitlich-rechtsstaatlichen Verfahrens.

Saarl. VerfG a. a. O.

Abschließend weise ich noch darauf hin, dass die Problematik der Nichtzurverfügungstellung von Rohmessdaten keine ist, die ausschließlich das Messsystem Traffistar S350 betrifft. Das Amtsgericht St. Ingbert hatte mit Urteil vom 26.4.2017 – 2 OWi 379/16 – die nachträgliche Löschung der Rohmessdaten bei dem Messgerät Leivtec XV3, das im Saarland sehr verbreitet ist, bemängelt und den Betroffenen freigesprochen.

Zum ESO ES 3.0:

https://rechtsanwalt-weiser.de/raweiser/eso-es-3-0-freispruch/


Freispruch! OLG Saarbrücken verwirft Geschwindigkeitsmessungen der Stadt Neunkirchen

Das Thema ging im Saarland durch die Medien. Da es sich um laufende Verfahren handelte, habe ich mich inhaltlich bislang nicht dazu geäußert (zum damaligen Beitrag:https://rechtsanwalt-weiser.de/raweiser/innenministerium-des-saarlandes-keine-privatisierung-der-verkehrsueberwachung/).

Es geht um die Einbeziehung von Privaten in die Auswertung von Geschwindigkeitsmessungen.

Konkret hatte die Stadt Neunkirchen den Messgerätehersteller Jenoptik in die Auswertung von Geschwindigkeitsmessungen einbezogen.

Das habe ich gerügt und zwar unter Hinweis auf den folgenden ministerialen Erlass:

Erlass über die Wahrnehmung der Verkehrsüberwachung durch Ortspolizeibehörden

Das Amtsgericht Neunkirchen hat sowohl in meinem Verfahren als auch in einem Parallelverfahren die jeweiligen Betroffenen freigesprochen. Es hat hinsichtlich des Messfotos ein Beweisverwertungsverbot angenommen. Da, wie üblich, keine weiteren Beweismittel zur Verfügung standen, konnte der Tatnachweis ohne das „Blitzerfoto“ nicht geführt werden.

Gegen die Freisprüche hat die Staatsanwaltschaft Saarbrücken Rechtsbeschwerde zum Oberlandesgericht des Saarlandes eingelegt.

Das Oberlandesgericht des Saarlandes hat die Ansicht des Amtsgerichts Neunkirchen bestätigt und die Freisprüche aufrechterhalten. Aus den Gründen:

… Nach Maßgabe dieser Grundsätze unterliegt das unter rechtswidriger Beteiligung der Jenoptik an der Auswertung der Rohmessdaten zustande gekommene Messbild im vorliegenden Fall hierbei einem Verwertungsverbot. Denn die Stadt Neunkirchen hat hierbei unter bewusster Missachtung der für sie geltenden Bestimmungen gehandelt.

Der Beschluss des OLG des Saarlandes ist sehr ausführlich und überzeugend begründet, weshalb ich ihn eingescannt habe und unter diesem Link zur Verfügung stelle:

OLG des Saarlandes, Beschl. v. 31.5.2017 – Ss BS 34/2017 (31/17 OWi)

Auswertung von Verkehrsmessungen durch Private – OLG Frankfurt

Das OLG Frankfurt hat mit Bschluss vom 3.3.2016 – 2 Ss OWi 1059/15 – zur sehr umstrittenen Frage der Verwertbarkeit einer Messung bei Auswertung durch Private Stellung genommen:

1. Verkehrsüberwachung ist Aufgabe der staatlichen Ordnungsbehörden (§ 47 OWiG, § 26 StVG).

2. Bei der Hinzuziehung von sog. privaten Dienstleistern muss die Ordnungsbehörde Herrin des Verfahrens bleiben.

3. Kern der Verkehrsmessung ist neben der Entscheidung wann, wo und wie gemessen wird, die Auswertung und Bewertung der vom Messgerät erzeugten Falldateien.

4. Beweismittel der Geschwindigkeitsmessung ist nämlich die Falldatei in ihrer lesbaren Auswertung in der Gerichtsakte (i.d.R. in Form eines Lichtbildes mit den Messdaten). Die Ordnungsbehörde muss deswegen im Besitz der Falldateien sein und sie muss über die Bewertung der Falldatei hinaus die Authentizität der Umwandlung der Falldateien in ihrer lesbaren Form sicherstellen und garantieren.

5. Überlässt die Ordnungsbehörde gesetz- und erlasswidrig ihre Kernaufgabe sog. privaten Dienstleistern, führt dies nicht automatisch zu einem Verwertungsverbot, da die Auswertung der Falldatei durch die Ordnungsbehörde nachgeholt werden kann.

Innenministerium des Saarlandes: Keine Privatisierung der Verkehrsüberwachung

Die jüngsten Entscheidungen des Amtsgerichts Neunkirchen, mit denen das Amtsgericht Messungen wegen der Auswertung durch Privatfirmen verworfen hat,  haben für großes Aufsehen im Saarland gesorgt. Derzeit steht die Urteilsbegründung durch das Amtsgericht Neunkirchen an. Die Generalstaatsanwaltschaft hat bereits Rechtsbeschwerde eingelegt, somit wird das Oberlandesgericht des Saarlandes Gelegenheit bekommen, sich mit dem Thema „Privatisierung der Verkehrsüberwachung“ zu befassen.

Zu den konkreten Verfahren in Neunkirchen werde ich mich nicht äußern, da es sich bei mir um mehrere laufende Verfahren mit dieser Problematik handelt. Über die Entscheidung des Oberlandesgerichts werde ich dann natürlich nach Vorliegen berichten, diese wird aber voraussichtlich erst in mehreren Monaten gefällt werden.

Mit diesem Beitrag möchte ich die Allgemeinheit und Betroffene noch einmal für das Thema sensibilisieren. Und ich möchte Kollegen, die im Bereich Verkehrsordnungswidrigkeiten nicht so häufig tätig und mit der Problematik nicht befasst sind, auf die Problematik aufmerksam machen.

Deshalb stelle ich hier den Erlass des saarländischen Innenministeriums zur kommunalen Verkehrsünberwachung im Volltext als PDF-Datei zur Verfügung und fasse im Anschluss kurz zusammen, was das Innenministerium des Saarlandes damit meines Erachtens zum Ausdruck bringt:

https://rechtsanwalt-weiser.de/raweiser/wp-content/uploads/2016/06/ErlasskommunaleVÜ.pdf

Das Ministerium stellt eindeutig klar, dass die Verkehrsüberwachung eine hoheitliche Aufgabe ist, die nur im Ausnahmefall an Private übertragen werden darf. Dabei sind die Erhebung der Daten (der Messvorgang an sich) und die Auswertung der Daten als eine Einheit zu betrachten.

Es muss also zunächst ein Ausnahmefall vorliegen, der die Behörde berechtigt, überhaupt Private bei der Verkehrsüberwachung einzuschalten, sei es beim Messvorgang oder – was das hier angesprochene Problem ist – bei der Auswertung der Messdaten.

Für mich ist ein solcher Ausnahmefall schon nicht ersichtlich, insbesondere ist die Auswertung durch Dritte vertraglich geregelt und zwar in den mir bekannten Fällen dergestalt, dass eben alle Messungen des jeweiligen oder der jeweiligen Geräte durch die Drittfirmen ausgewertet werden. Was das mit einem „Ausnahmefall“ zu tun haben soll, leuchtet mir nicht ein. Geht man mal davon aus, dass ein solcher Ausnahmefall vorläge, dann dürfen Private dennoch nur unter sehr engen Voraussetzungen, die im Einzelnen genannt werden, involviert werden. Unter anderem steht im Erlass:

Es muss sich um Leiharbeiter oder ähnliche Mitarbeiter handeln, die örtlich und zeitlich in die Gemeindeverwaltung eingebunden sind und von einem für den Messbetrieb qualifizierten Beamten überwacht werden. Diese Privaten müssen darüber hinaus selbst qualifiziert sein.

Bei sämtlichen mir vorliegenden Akten, in denen Dritte eingebunden worden sind, war nicht einmal klargestellt, wer die Messung ausgewertet hat und dass Drittfirmen beteiligt waren. Der einzige Hinweis, dass überhaupt eine Datenweitergabe an Drittfirmen erfolgt sein könnte, ergab sich aus dem Eichschein, da in diesem nicht die Behörde, sondern eben die Privatfirma als Antragsteller der Eichung angegeben war. Häufig bestehen in einem solchen Fall auch entsprechende Verträge zur Auswertung der Messung durch die Privatfirma. Das nur als Hinweis für Kollegen, die sich sicherlich nach Kenntniserlangung von der bis dato doch eher wenig bekannten Problematik, nunmehr fragen werden, woran sie erkennen, dass da überhaupt Privatfirmen im Spiel sind.

Das grenzt meines Erachtens an eine Irreführung durch die Behörden, zumal die Messpersonen – nämlich die jeweiligen Beamten – in der Akte regelmäßig als Zeugen genannt werden und häufig auch Schulungsnachweise beigefügt sind. So wird nach meinem Dafürhalten bei dem mit der Sache befassten Verteidiger der Eindruck erweckt, dass die Messung und Auswertung vollständig durch den oder die jeweiligen Beamten erfolgt sind. Es dürfte auch aus datenschutzrechtlichen Gründen heraus das Mindeste sein, dass dem Betroffenen im Rahmen der Akteneinsicht mitgeteilt wird, dass seine Daten an eine Drittfirma herausgegeben und dort ausgewertet wurden.

Abschließend – und das ist meine ganz persönliche Meinung – kann ich nur hoffen, dass das OLG Saarbrücken die Rechtsbeschwerde der Generalstaatsanwaltschaft verwirft und diese Vorgehensweise für unzulässig erklärt. Sicher ist der oben genannte Erlass auf den ersten Blick verwaltungsinternes Recht, das im Regelfall keine unmittelbare Wirkung für die Betroffenen entfaltet, dergestalt, dass diese sich unmittelbar darauf berufen könnten. Er ist quasi als Anweisung des Ministeriums an die Gemeinden, die in eigener Regie Messungen durchführen, zu verstehen.

In Zeiten, in denen wir beispielsweise darüber diskutieren, ob Dashcamaufnahmen von Verkehrsunfällen überhaupt vor Gericht verwertbar sind oder einer Verwertung die Persönlichkeitsrechte der Fahrzeugfahrer, deren Fahrzeuge (nicht einmal die Personen selbst!!!) gefilmt wurden, entgegenstehen, ist die planmäßige Zurverfügungstellung von massenhaft erhobenen Daten und Fotografien – auch Unschuldiger – Betroffener an Dritte doch wohl eindeutig ein schlechter Scherz.

Aber, wie gesagt, das ist nur meine Meinung.

OLG Oldenburg: Akteneinsicht in die vollständigen Messdateien!

Immer mehr Entscheidungen ranken sich um das Thema Akteneinsicht im Bußgeldverfahren. Während früher – und bei manchen Bußgeldstellen auch noch heute – um die Frage der Einsicht in die Lebensakte (Reparatur- und Wartungsberichte) des Messgeräts, den Eichschein und den Schulungsnachweis des Messbeamten gestritten wird, mehren sich die Entscheidungen zum Thema Akteneinsicht in die Rohmessdaten.

Bei einigen Messgeräten kann die Überprüfung der Ordnungsgemäßheit der Messung nach Ansicht mehrerer namhafter Sachverständiger nur anhand der sogenannten Rohmessdaten, also der originalen, bei der Messung erhobenen Daten, überprüft werden. Hört sich für mich zumindest logisch an …

Zur Verfügung gestellt werden in der Regel aber nur die von der Bußgeldstelle oder sogar dem Messgerätehersteller der sonstigen Dritten bearbeiteten Ausdrucke der Messung. Die Rohmessdateien sind nie von Anfang an Gegenstand der Akte. Es scheint so, als wehrten sich die Messgerätehersteller und teilweise auch die Bußgeldstellen mit Händen und Füßen, diese Dateien herauszugeben. Einige haben sie auch meistens gar nicht (mehr alle).

Mehrere Amtsgerichte haben bereits entschieden, dass der Verteidigung sämtliche Messdateien, auch solche, die die am Tattag egefertigten Messdateien anderer Verkehrsteilnehmer enthalten zur Verfügung zu stellen sind (bspw. Amtsgericht Wuppertal, Amtsgericht Trier, Amtsgericht Weißenfels). Das sieht auch das OLG Oldenburg, Beschl. v. 06.05.2015 – 2 Ss (OWi) 65/15, so:

Dabei war bereits rechtsfehlerhaft, dass dem Betroffenen nicht die Messdatei übersandt wurde. Da sie Grundlage und originäres, unveränderliches Beweismittel der Geschwindigkeitsmessung ist, ist sie – rechtzeitig vor dem Prozess – einem Betroffenen auf dessen Wunsch hin zugänglich zu machen.

AG Bad Kissingen: ESO ES 3.0 – Freispruch! Ohne Rohmessdaten keine Verwertung einer ESO-Messung!

Das AG Bad Kissingen hat mit Urteil vom 30.11.2015 – 3 OWi 16 Js 3704/14 – einen Betroffenen von dem Vorwurf einer Geschwindigkeitsmessung freigesprochen. Die Anhörung eines Sachverständigen, der die Messung mit dem Geschwindigkeitsmessgerät ES 3.0 überprüft hat, ergab Folgendes:

Bei der Softwareversion 1.007.1 werden lediglich noch die vom Messgerät vorläufig berechneten Geschwindigkeitswerte gespeichert. Bei der konkreten Messung lagen diese zwischen 165 km/h und 173 km/h. Wegen dieser erheblichen Schwankung konnte der Sachvertsändige – ohne Zugriff auf die sogenannten Rohmessdaten – nicht verifizieren, dass das Messergebnis von 171 km/h tatsächlich zutreffend ermittelt war.

Der Messgerätehersteller bietet inzwischen ein kostenpflichtiges (!!!) Onlineprogramm an, das die Rohmessdaten auswerten soll. Hierzu führte der Sachverständige aus, dass durch das Programm lediglich grafisch aufbereitete Daten nicht aber die erforderlichen Rohmessdaten zur Verfügung gestellt werden würden. Es könne anhand dieser Software nicht sichergestellt werden, dass es sich hierbei um die echten Daten, die bei der Messung erhoben wurden, handele. Ebenfalls könnten Manipulationen nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden.

Das AG Bad Kissingen ist diesen Ausführungen gefolgt, hat die Messung verworfen und den Betroffenen freigesprochen.

OLG Rostock zur Auswertung von Verkehrsmessungen durch Private

Das OLG Rostock hat mit Beschluss vom 17.11.2015 – 21 Ss OWi 158/15 – ein Urteil des AG Parchim aufgehoben. Der Betroffene wurde vorm Amtsgericht Parchim vom Vorwurf der Geschwindigkeitsüberschreitung freigesprochen, weil nach Ansicht des Amtsrichters die Auswertung der Messdaten durch ein Privatunternehmen rechtlich unzulässig sei und daraus ein Beweisverwertungsverbot folge.

Gegen das freisprechende Urteil legte die Staatsanwaltschaft Rechtsbeschwerde zum OLG Rostock ein. Die Staatsanwaltschaft erhob die Aufklärungsrüge mit der Begründung, wenn das Amtsgericht davon ausgehe, dass die Auswertung der Messung durch Private unzulässig sei, müsse es zumindest im Wege der Amtsaufklärung die noch vorhandenen Rohmessdaten selbst auswerten lassen.

Der Senat stimmte dieser Auffassung zu, hob das Urteil auf und verwies an das Amtsgericht zur erneuten Verhandlung der Sache zurück.

Obiter dictum weist der Senat daraufhin, dass nach seiner Auffassung die Auswertung von Messungen durch Private keinen rechtlichen Bedenken begegne.

Diese Auffassung des OLG Rostock steht in Widerspruch zu den bereits vorliegenden Entscheidungen des OLG Naumburg, des OLG Frankfurt und des Amtsgerichts Kassel (AG Kassel zur Unverwertbarkeit einer von Privaten ausgewerteten Messung).

Nach meiner Meinung überzeugt der Beschluss allerdings im Tenor. Wenn das Gericht ein Beweisverwertungsverbot annimmt, weil die Messung durch Private ausgewertet wurde, dann hat es selbst aufzuklären, ob der Tatvorwurf noch auf anderem Wege geklärt werden kann. So weit die Rechtslage. Allerdings ist oft praktisch gar nicht mehr nachzuvollziehen, ob die Rohmessdaten unverändert vorliegen. Häufig werden diese nämlich zunächst auf dem Server des Privaten gelagert und dort bearbeitet, ohne dass die Behörde sie überhaupt prüfen kann. In diesen Fällen dürfte sich auch eine nachträgliche Auswertung durch einen vom Gericht beauftragten Sachverständigen verbieten.

Die Empfehlungen des deutschen Verkehrsgerichtstags 2016

An diesem Wochenende tagte der Verkehrsgerichtstag in Goslar. Es handelt sich um eine interdisziplinäre Zusammenkunft von Experten auf verschiedenen Gebieten des Verkehrsrechts und angrenzender wissenschaftlicher Bereiche ( z.B. Psychologie, Medizin, Verkehrsmesstechnik, etc.).

Der Verkehrsgerichtstag diskutiert in mehreren getrennten Arbeitskreisen aktuelle Fragen des Verkehrsrechts aus und beschließt einen Empfehlungskatalog für den Gesetzgeber.

Im Video fasse ich die wesentlichen – und nach meiner Einschätzung für die Allgemeinheit auch interessanten – Empfehlung zusammen. Sie betreffen Fragen der Alkoholproblematik im Straßenverkehr (vor allem: MPU unter 1,6 Promille), des Messwesens (Blitzer etc.), Verwertung von Dashcamaufnahmen, steuerliche Fragen beim Verkehrsunfall, Beschleunigung des Verkehrszivilprozesses (Unfallklagen), sowie die Reform des Fahrlehrerrechts und Rechtsfragen um das Thema Mega-Containerschiffe.

Wer sich die Empfehlungen im Volltext ansehen möchte, findet hier den Link zum PDF-Dokument:

Die Empfehlungen des 54. deutschen Verkehrsgerichtstags (PDF)

 

AG Meißen – ESO ES 3.0 nicht standardisiert

Entgegen der Rechtsprechung der meisten Oberlandesgerichte hat das Amtsgericht Meißen – nach ausführlicher Überprüfung des Messsystems ESO 3.0 – erkannt:

„Die innerstaatliche Bauartzulassung, auf deren Grundlage die Eichungen aller eingesetzten ES 3.0 beruhen und die Einhaltung der Bedienvorschriften gewährleistet nicht, dass unter gleichen Voraussetzungen gleiche Messergebnisse zu erwarten sind.

Die Beweisaufnahme hat bauartbedingte Fehlerquellen der Geschwindigkeitsmessanlage bei der Messwertbildung zu Tage treten lassen, die nicht innerhalb der zulässigen Verkehrsfehlergrenze liegen und auch nicht durch einen größeren Toleranzwert ausgeglichen werden können.“

Der Betroffene wurde freigesprochen.

Amtsgericht Bremen: Messung mit Poliscan Speed nicht verwertbar!

Über die aktuelle Diskussion um die Verwertbarkeit von Messungen mit Poliscan Speed – Messsystemen der Herstellerfirma Vitronic hatte ich bereits berichtet:

OLG Frankfurt zum Poliscan: „Passt schon!“

Nun hat sich das Amtsgericht Bremen der Argumentation des Oberlandesgerichts Frankfurt entgegengestellt und einen Betroffenen wegen Unverwertbarkeit einer Poliscan-Messung freigesprochen.

Das Gericht hat einen Sachverständigen gehört, der ausführte, der sogenannte Auswerterahmen auf dem Messfoto sei von der Auswertesoftware Tuff Viewer und gerade nicht von der geeichten Messsoftware des Gerätes erzeugt worden.

Die Auswertesoftware selbst ist allerdings nach den Erkenntnissen des Gerichts nicht geeicht.
Der Sachverständige legte Messfotos aus anderen Verfahren vor, die je nach Verwendung der unterschiedlichen Softwareversionen eben dieser Auswertesoftware Tuff Viewer den Messrahmen in unterschiedlicher Position abbildeten.

Der Auswerterahmen ist aber nach der Herstellerfirma und der PTB das maßgebliche Element zur Überprüfung der Ordnungsgemäßheit der Messung. Das ominöse Viereck, das auf Poliscan-Messfotos abgebildet wird, muss sich in einer bestimmten Position auf dem Messfoto befinden, sonst ist die Messung nicht verwertbar. Dass ein solches Element, das letztlich (mit-)entscheidend dafür sein soll, ob eine Messung korrekt verlaufen sein soll oder nicht,  je nach verwendeter Softwareversion in veränderter Position erscheint, kann meines Erachtens nach wie vor nicht angehen.

AG Kassel: Allein von Privatfirmen ausgewertete Messungen sind nicht verwertbar

Das Amtsgericht Kassel hat mit Urteil vom 14.4.15, 385 OWi – 9863 Js 1377/15, eine Geschwindigkeitsmessung verworfen, die durch ein Privatunternehmen ausgewertet worden war.

Der Betroffene wurde freigesprochen.

Hintergrund war eine gar nicht so seltene Fallgestaltung, nämlich die Abgabe der Rohmessdateien an ein rein privates Unternehmen zum Zwecke der Auswertung der jeweiligen Falldateien. Solche Konstellationen sind meist im Rahmen des Leasings der Blitzeranlagen optional möglich. Dies obgleich in den meisten Bundesländern Vorschriften bestehen, wonach die Auswertung einer Messung hoheitlich zu erfolgen hat, z. B. in der Amtsstube.

Bereits an dieser Stelle setzt bei mir völliges Unverständnis ein. Wie kann eine Behörde eine hoheitliche Aufgabe denn ganz oder auch nur teilweise an Privatfirmen abgeben.

Das Gericht führt aus, dass es sich bei einer Messung, deren Auswertung von der Verwaltungsbehörde vollständig in die Hände privater Unternehmen gegeben worden sei, schon keine Überzeugung davon bilden könne, ob die Messung überhaupt stattgefunden habe.

Das Amtsgericht kritisiert vor allem das eigene finanzielle Interesse des Privatunternehmens, welches nach der Darstellung in den Urteilsgründen nur dann Gewinn erziele, wenn die Messung auch verwertbar sei.

Aus den Urteilsgründen:

„Völlig unverständlich wird diese Situation spätestens dann, wenn man berücksichtigt, dass das hier faktisch auswertende Privatunternehmen, welches als GmbH satzungsgemäß einem Gewinnstreben unterliegt, lediglich dann einen monetären Ertrag für seine Arbeit erhält, wenn die Messung als verwertbar eingestuft wird. Die Entscheidung, ob die Messung verwertbar ist oder nicht, oblag vorliegend jedoch faktisch dem Unternehmen selbst. Das hierdurch entstehende Eigeninteresse an dem Ergebnis der Auswertung der Messung stellt ein Interessenkonflikt dar, der im Rahmen einer hoheitlichen Messung nicht zu akzeptieren ist.“

Die aktuelle Entscheidung des Amtsgerichts Kassel ist wahrlich keine Ausreißerentscheidung sondern liegt „voll im Trend“ der aktuellen Rechtsprechung (ebenso haben auch das OLG Naumburg, das OLG Frankfurt und mehrere Amtsgerichte bereits entschieden).

Abgesehen von der überzeugenden Argumentation des finanziellen Eigeninteresses und dem grundsätzlichen Problem der Verwertbarkeit im Rahmen eines Bußgeldverfahrens, muss man sich doch Folgendes fragen:

Wenn sich Messgerätehersteller vor Gericht unter Berufung auf urheberrechtliche und datenschutzrechtliche Gründe standhaft weigern, nähere Auskunft über die Funktionsweise ihrer Messgeräte zu erteilen oder die Rohmessdateien herauszugeben, so dass diese von einem Sachverständigen überprüft werden können, wie ist es dann möglich, dass gerade diejenigen Verfechter der Schutzrechte, sei es selbst oder durch Drittfirmen, auf die Datenschutzrechte der Betroffenen vollständig pfeifen! Und „pfeifen“ ist da noch höflich ausgedrückt!

Es ist also ein datenschutzrechtlich und urheberrechtlich besonders relevantes Problem, der Verteidigung die Überprüfung der Messung durch einen Sachverständigen zu ermöglichen, aber die massenweise erhobenen Daten (auch unschuldiger) Betroffener, abzugreifen und auszuwerten, geht natürlich voll in Ordnung?!

Honi soit qui mal y pense!

„Einmal blasen!“ „Bitte?!“ – Zur Belehrungspflicht beim Atemalkoholtest

Den meisten Betroffenen ist nicht klar, dass sie nicht verpflichtet sind, an einer Atemalkoholkontrolle mitzuwirken. Hier gilt der Grundsatz, dass sich niemand selbst belasten muss.

Es ist also durchaus zulässig, wenn man die Aufforderung: „Einmal blasen bitte“ mit: „Nein, danke!“ beantwortet.

Die Frage, die im Rahmen dieses Beitrages angesprochen werden soll, ist allerdings nicht, was passiert, wenn man das gut gemeinte Angebot der Beamten höflich ausschlägt. Dann folgt im Regelfall schlicht und einfach die Anordnung einer Blutentnahme, an der man nicht vorbeikommt. Im Einzelfall mag man auch Glück haben, und die Beamten lassen einen fahren … (im wörtlichen Sinne) Darum geht es in diesem Beitrag aber nicht.

Wenn man gar nicht blasen muss, dann stellt sich zum einen die Frage, ob die Polizeibeamten verpflichtet sind, über diesen Umstand zu belehren. Und wenn eine solche Verpflichtung besteht, eine Belehrung aber nicht erfolgt ist, ist dann das Ergebnis des Atemalkoholtests trotzdem verwertbar oder nicht?

Muss der Beamte also auf die Freiwilligkeit der Teilnahme an der Atemalkoholkontrolle hinweisen oder nicht?

Das Kammergericht Berlin (KG 30.7.14, 3 Ws (B) 356/14) meint, dass keine Belehrungspflicht besteht. Daraus folgt, dass auch ein ohne Belehrung durchgeführter Atemalkoholtest grundsätzlich verwertbar ist.

Anders sehen das das Amtsgericht Frankfurt und das Landgericht Freiburg. Die Rechtsprechung zu diesem Thema ist nämlich durchaus uneinheitlich. Es kommt mehr oder weniger darauf an, im Bezirk welchen Gerichts man angehalten wird. Berlin ist also eher schlecht für den Betroffenen, Freiburg eher gut, nicht aber, wenn der Betroffene zusätzlich Cannabis dabei hat, dann nämlich wäre er besser in Hamburg, auf keinen Fall aber in München erwischt worden. Soviel sei nebenbei zur Einheitlichkeit der Rechtsprechung in der Bundesrepublik Deutschland und dem daraus resultierenden Gerechtigkeitsempfinden des einfachen Bürgers erwähnt.

Wenn einen ein Beamter anhält und zur Teilnahme an einem Atemalkoholtest auffordert, sollte man aus taktischen Gründen dennoch nicht unbedingt rückfragen, wo man sich gerade befindet. „Einmal blasen bitte!“ „Wo bin ich hier eigentlich?“, ist nicht gerade die Art Kommunikation, die den Interessen des Betroffenen dienlich sein dürfte.

Folgt man der zweiten Ansicht und hält eine Belehrung für erforderlich und ist diese unterblieben, dann stellt sich die Folgefrage, ob ein solches Messergebnis trotzdem verwertbar ist oder nicht.

Auch hierzu lassen sich unterschiedliche Ansichten vertreten. Klar ist nur, dass solche Alkoholmessungen unverwertbar sind, bei denen ein offenkundiger Irrtum des Betroffenen über die Freiwilligkeit bewusst ausgenutzt wird.

Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass in allen Fällen, in denen dem Betroffenen vorgespiegelt wird, er sei zur Mitwirkung verpflichtet, per se – und zwar unabhängig davon – ob eine Belehrungspflicht überhaupt besteht, eine Unverwertbarkeit vorliegt.

TENDENZIELL könnte man also wie folgt zusammenfassen:

„Einmal blasen! Ist freiwillig!“ verwertbar
„Einmal blasen!“ fraglich, in Berlin aktuell verwertbar
„Einmal blasen!“ „Muss ich?“ „Ja!“ unverwertbar
„Einmal blasen! Sie müssen!“ unverwertbar
„Einmal blasen!“ „Muss ich?“ „Sag‘ ich nicht!“ fraglich
„Einmal blasen!“ „Muss ich?“ „Weiß ich nicht.“ Beruf verfehlt

Die Thematik der Verwertbarkeit der Atemalkoholmessung spielt übrigens nur im Bußgeldverfahren eine Rolle, da die Ergebnisse eines Atemalkoholtestes im Strafverfahren per se nicht verwertbar sind. Im Strafverfahren muss ein Blutgutachten vorliegen. Da heißt es dann: „Einmal zapfen!“, und zwar zur Not auch gegen den ausdrücklichen Willen des Beschuldigten.

ESO 3.0 – Fehlende Fotolinie reicht nicht zur Unverwertbarkeit

Der Kollege Burhoff berichtet auf seinem Blog über eine neue Entscheidung des OLG Oldenburg zu dem Messverfahren ESO 3.0. Ich hatte über die Entscheidung des AG Lübben berichtet. Während das AG Lübben von einer Unverwertbarkeit der Messung ausgeht, wenn die Fotolinie nicht auf dem Messfoto zu erkennen ist, schlägt das OLG Oldenburg einen anderen Weg ein. Es hält lediglich Zweifel an der Richtigkeit der Messung für begründet, weshalb dann ein Sachverständigengutachten zur Ordnungsgemäßheit der Messung einzuholen ist. Das nur als kleines Update.

ES 3.0 – AG Lübben erklärt Messung für nicht verwertbar

Der Sachverständige Dr. Johannes Priester, seines Zeichen eine anerkannte Koriphäe unter den Verkehrssachverständigen, hat im Juris Praxis Report neulich ausführlich Zweifel an der Zulassung des Messsystems durch die Pyhiskalisch Technische Bundesanstalt (PTB) aufgezeigt. Der Sachverständige führt insoweit u.a. aus, überprüfbare Beweise der richtigen Messwertbildung seien nicht vorhanden, die Zuordnung der abgebildeten Fahrzeuge sei nachträglich kaum möglich, die Funktionsweise des Geräts werde vom Hersteller nicht offengelegt, es werde auch nicht veröffentlicht, welche Überprüfungen die PTB bei der Zulassung durchgeführt habe und vor allem sei bislang nicht veröffentlicht worden, welchen Fehlerquellen dieses Gerät unterliege.

Das AG Lübben hat durch Beschl. v. 16.03.2010 – 40 OWi 1321 Js 2018/10 (58/10) entschieden, dass eine Messung, die ohne Dokumentation der Fotolinie durchgeführt wurde, nicht verwertbar ist. Die Betroffene wurde freigesprochen. Beim ES 3.0 sind zwei Linien zu unterscheiden: Die Messlinie und die Fotolinie.  Das ES 3.0 besteht aus der Messeinheit, die mit drei Lichtschranken ausgestattet ist. Die mittlere davon ist die gedachte Messlinie. Die Fotografie wird dann durch die Fotoeinheit, die drei Meter hinter der Messeinheit aufgebaut wird, gefertigt. Hier ist dann eine – wie auch immer geartete – Fotolinie auf der Fahrbahn anzubringen, die z.B. als gedachte Linie zwischen zwei am Fahrbahnrand aufgestellten Hütchen konstruiert werden kann. Die Fotolinie, nicht die Messlinie, muss dann auf dem Blitzerfoto erkennbar sein. Virulant wird das vor allem, wenn zwei Fahrzeuge in kurzem Abstand gemessen werden, da dann nur, wenn die Fotolinie erkennbar ist, beweiskräftig festgestellt werden kann, dass es sich bei dem fotografierten Fahrzeug auch um dasjenige handelt, das auch gemessen wurde.

Im konkret vom AG Lübben entschiedenen Fall war die Fotolinie von den Messbeamten durch EIN Hütchen am Fahrbahnrand gekennzeichnet. Demgemäß herrschte hinsichtlich der exakten Lage der Fotolinie ein gewisser Gestaltungsspielraum. Zudem ergab die sachverständige Begutachtung, dass nicht auszuschließen war, dass die Messbeamten versehentlich die Fotoeinheit auf die Messlinie gerichtet hatten. Aus diesem Grund war auch nicht mehr auszuschließen, dass das falsche – also das dem gemessenen Fahrzeug nachfolgende – Fahrzeug geblitzt wurde.

In einem ähnlichen Fall hatte ich übrigens heute eine Verhandlung vor dem Bußgeldrichter. Auf dem Foto in der Bußgeldakte waren drei Linien zu erkennen. Hütchen o.Ä. habe ich allerdings keine gesehen. Darum kümmert sich jetzt der auf meinen Antrag vom Gericht bestellte Sachverständige. Außerdem habe ich mal beantragt, die Prüfungsunterlagen der PTB zur Zulassung des Messsystems beizuziehen. Schau mer mal, was dabei wohl rauskommt …

Messungen des ES 3.0 wurden auch schon wegen anderer Fehler für nicht verwertbar gehalten. Problematisch ist zum Beispiel, dass die Bedienungsanleitung zwischenzeitlich ausgetauscht wurde und ein Softwareupdate stattfand. In einem Fall stellte sich beispielsweise heraus, dass eine veralte Software aufgespielt war.