Eine sehr bedeutende Frage für das Fahrerlaubnisrecht hatte das Bundesverwaltungsgericht zu entscheiden (Urt. v. 25.09.2008 AZ 3 C 21.09) . Ich möchte die Fragestellung vorab anhand eines Fallbeispiels verdeutlichen:
Verkehrsteilnehmer Schludrig nimmt es mit der StVO nicht so genau. Er hat bereits 17 Punkte und telefoniert trotzdem regelmäßig während der Fahrt mit seinem Handy. Es kommt, wie es kommen muss, Schludrig wird erwischt. Auf den Bußgeldbescheid reagiert er nicht, die Beauftragung eines Rechtsanwalts hält er für nicht erforderlich. Verdientermaßen wird daher nach Rechtskraft des Bußgeldbescheides ein Punkt eingetragen. Der Punkt wird im September 2009 eingetragen, die Fahrerlaubnisbehörde entzieht Schludrig die Fahrerlaubnis daraufhin im November 2009 (Bekanntgabezeitpunkt). Schludrig wendet sich nun doch an einen Rechtsanwalt. Der Rechtsanwalt legt gegen die Fahrerlaubnisentziehung rechtzeitig Widerspruch ein. Im Dezember 2009 werden 5 Punkte gelöscht. Schludrig hat nun nur noch 13 Punkte. Im Januar 2010 weist die Fahrerlaubnisbehörde den Widerspruch Schludrigs zurück.
Die Frage, die sich nun zwangsläufig stellt, ist, ob die Behörde bei Entscheidung über den Widerspruch im Januar 2010 berücksichtigen muss, dass nun nur noch 13 Punkte eingetragen sind. Dann nämlich muss sie dem Widerspruch abhelfen. Schludrig gewinnt. So sahen das auch das Oberverwaltungsgericht Bremen (NJW 2007, 394) und das Oberverwaltungsgericht Koblenz (DAR 2007, 41). Andererseits könnte man auch darauf abstellen, dass im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Fahrerlaubnisentzugs im November 2009 die Voraussetzungen für die Entziehung noch vorlagen. Dann wäre der Widerspruch zurückzuweisen. Schludrig verliert. So entschieden haben z.B. das Oberverwaltungsgericht Münster (DAR 2007, 164) der Verwaltungsgerichtshof München (DAR 2007, 717) und der Verwaltungsgerichtshof Mannheim (DÖV 2005, 746).
Die zu entscheidende Frage lautet also:
Muss die Fahrerlaubnisbehörde bei ihrer Entscheidung über den Widerspruch die Rechtslage zugrunde legen, die bei Bekanntgabe der Fahrerlaubnisentziehung bestand oder ist die Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung über den Widerspruch maßgeblich?
Die Bedeutung für die rechtsanwaltliche Praxis liegt auf der Hand. Ist die Rechtslage bei Erlass des Widerspruchsbescheid maßgeblich, ist das günstig für den Mandanten. Denn es kann dann unter Umständen erreicht werden, dass der Mandant durch zwischenzeitliche Punktelöschung im Widerspruchsverfahren obsiegt. Ist dagegen die Rechtslage im Zeitpunkt der Bekanntgabe der Fahrerlaubnisentziehung maßgeblich, ist der Zug abgefahren, wenn der Mandant bei Bekanntgabe des Fahrerlaubnisentzugs tatsächlich über 17 Punkte hat.
Das Bundesverwaltungsgericht hat die zu entscheidende Frage in überraschender und für den Schludrig denkbar ungünstigster Weise geklärt. Der Leitsatz:
"Hat der Inhaber einer Fahrerlaubnis einen Punktestand erreicht, der nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG die mangelnde Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen zur Folge hat, ist eine danach eintretende Tilgung von Punkten im Verkehrszentralregister für die Rechtmäßigkeit der Fahrerlaubnisentziehung ohne Bedeutung."
Das bedeutet nicht weniger, als dass es weder auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe der Entziehung der Fahrerlaubnis noch auf den Zeitpunkt der Entscheidung über den Widerspruch ankommt. Es kommt alleine darauf an, dass irgendwann über 17 Punkte im Verkehrszentralregister eingetragen waren. Schludrig hat nun also selbst dann keine Chance mehr, wenn sich der Punktestand vor Bekanntgabe der Entziehung, also beispielsweise im Oktober 2009, auf unter 18 Punkte verringert.
Meine Meinung: Die Entscheidung verkennt sämtliche Grundsätze, die über Jahrzehnte hinweg zur Frage des maßgeblichen Zeitpunktes für die Beurteilung der Rechtslage durch die Verwaltungsbehörde aufgestellt wurden. Rechtsdogmatisch ist diese Entscheidung daher "etwas daneben". Für Schludrig ist die Entscheidung ist ein übler Nackenschlag, der wäre besser beraten gewesen, gegen den Bußgeldbescheid rechtzeitig Einspruch einzulegen…