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Archiv: 9. Juli 2019

Messungen unverwertbar! Saarl. VerfG hebt Verurteilung auf!

Der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes hat mit Urteil vom 5.7.2019 – Lv 7/17 – entschieden, dass die Nichtspeicherung von Rohmessdaten bzw. das Nichtzurverfügungstellen das Grundrecht des Betroffenen auf ein faires gerichtliches Verfahren (Art. 60 Abs. 1 der Saarländischen Verfassung i.V.m. Art 20 der Saarländischen Verfassung) verletzt. Gegenstand des Urteils ist das Messverfahren Traffistar S350 der Firma Jenoptik.

Das Urteil finden Sie im Volltext hier:

https://rechtsanwalt-weiser.de/raweiser/wp-content/uploads/2019/07/2019-Lv-7-17-Anonym.pdf

Diese Entscheidung hatte sich nach der mündlichen Verhandlung vom 9.5.2019 abgezeichnet::

Das Saarlandische Verfassungsgericht führt aus:

Fehlt es an ihnen (Anmerk. d. Unterzeichners: den Rohmessdaten) und vermag sich eine Verurteilung nur auf das dokumentierte Messergebnis und das Lichtbild des aufgenommenen Kraftfahrzeugs und seines Fahrers zu stützen, so fehlt es nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofs an einem fairen rechtsstaatlichen Verfahren, wenn sich ein Betroffener wie hier – selbst ohne nähere Begründung – gegen das Messergebnis wendet und ein Fehlen von Rohmessdaten rügt. Eine Verurteilung kann dann auf dieser Grundlage nicht erfolgen.

Saarl. VerfG a. a. O.

Der Saarl. VerfG hat die Entscheidungen des Amtsgerichts Saarbrücken und des Saarländischen Oberlandesgerichts aufgehoben, die gegen den Betroffenen ergangen waren.

Wenn zu den rechtlichen Rahmenbedingungen eines standardisierten Messverfahrens zählt, sich mit Einwänden gegen seine Ergebnisse wenden zu dürfen, so darf einem Betroffenen nicht von vornherein abgeschnitten werden, solche Einwände erst zu ermitteln.

Saarl. VerfG a. a. O.

Damit löst der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes den von einigen Verteidigern seit Jahren angeprangerten „Teufelskreis“ bei standardisierten Messverfahren.

Ist ein Messverfahren von der Rechtsprechung als standardisiert anerkannt, muss der Betroffene nämlich konkrete Zweifel an der Ordnungsgemäßheit der Messung aufzeigen, um das Gericht zu veranlassen, die Messung in seinem Einzelfall auf ihre Ordnungsgemäßheit hin zu überprüfen.

Nach richtiger Ansicht des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes ist er hierfür aber gerade auf die Zurverfügungstellung der Messdateien angewiesen.

Der Verfasssungsgerichtshof des Saarlandes zieht einen Vergleich zu DNA-Beweisen und Blutprobenanalysen:

Solange eine Messung aber nicht durch die Bereitstellung der Datensätze – einschließlich auch der Statistikdatei – einer Nachprüfung durch die Verteidigung des Betroffenen zugänglich ist, würde der alleinige Verweis auf die Verlässlichkeit der Konformitätsprüfung – die im Übrigen keiner öffentlichen Transparenz und keiner Kontrolle der von der Verwendung der Messgeräte Betroffenen unterliegt – schlicht bedeuten, dass Rechtsuchende auf Gedeih und Verderb der amtlichen Bestätigung der Zuverlässigkeit eines elektronischen Systems und der es steuernden Algorithmen ausgeliefert wären. Das ist nach der Überzeugung des Verfassungsgerichtshof weder bei Geschwindigkeitsmessungen noch in den Fällen anderer standardisierter Messverfahren – wie beispielsweise der Blutprobenanalyse und der DNAIdentitätsmusterfeststellung – rechtsstaatlich hinnehmbar. Auch in den genannten Beispielsfällen käme niemand auf den Gedanken, dass die untersuchten gesicherten Substanzen sofort nach ihrer Analyse vernichtet werden könnten und nachträglichen Zweifeln eines Beschuldigten an der Richtigkeit der Feststellungen nicht nachgegangen werden müsste, weil das Ergebnis der standardisierten Untersuchungen in aller Regel zutreffend sei.

Denn zu einer wirksamen Verteidigung gehört nicht nur, ein Gericht auf solche ihm ohnehin ins Auge fallenden Umstände aufmerksam zu machen, sondern nachforschen zu können, ob es bislang gerade nicht bekannte Zweifel an der Tragfähigkeit eines Vorwurfs gibt. Muss das Gericht die näheren technischen und physikalischen Umstände der Geschwindigkeitsmessung im Rahmen des standardisierten Messverfahrens nicht aufklären und bliebe die Aufklärung zugleich auch dem Betroffenen verwehrt, würde die Tatsachengrundlage der Verurteilung letztlich jeder gerichtlichen Überprüfung entzogen.

Saarl. VerfG a. a. O.

Damit sind Messungen, die mit dem Traffistar S350 der Firma Jenoptik im Saarland durchgeführt wurden und – wie allgemein üblich – auch im Saarland geahndet werden, derzeit nicht verwertbar, jedenfalls nicht, solange der Messgerätehersteller die Rohmessdaten nicht zur Verfügung stellt. Da die Software diese Daten nach wie vor löscht, jedenfalls ist das der aktuelle diesseitige Kenntnisstand, dürfte eine nachträgliche Zurverfügungstellung derzeit ausscheiden.

Die Rechtsfolge ist klar:

Sind die Ergebnisse des Messverfahrens mit dem Messgerät Traffistar 350S folglich wegen einer verfassungswidrigen Beschränkung des Rechts auf eine wirksame Verteidigung unverwertbar, sind die angegriffenen Entscheidungen aufzuheben. (Hervorh. d. Unterz.)

Saarl. VerfG a. a. O.

Der Saarländische Verfassungsgerichtshof macht des Weiteren eine unmissverständliche Ansage an die Gerichte des Saarlandes, vor allem also an das Amtsgericht St. Ingbert, das nach der Strukturreform praktisch alleine zuständig für solche Verfahren im Saarland ist, und das Oberlandesgericht des Saarlandes:

Gerichte des Saarlandes sind – vorbehaltlich einer abweichenden späteren Entscheidung eines Bundesgerichts oder des Bundesverfassungsgerichts – an die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes gebunden. Soweit dies lediglich einen konkreten Streitfall betrifft, ist allerdings aus gegebenem Anlass darauf hinzuweisen, dass in gleich gelagerten Streitfällen – vorbehaltlich der Zulassung eines Rechtsbehelfs zu einem Bundesgericht – der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes abweichende Entscheidungen saarländischer Instanzgerichte korrigieren wird. (Hervorh. d. Unterz.)

Saarl. VerfG a. a. O.

Sehr anschaulich hebt das Saarl. Verfassungsgericht die Bedeutung der Grundsätze des fairen Verfahrens und der Überprüfbarkeit staatlicher Sanktionen hervor, indem es ausführt:

Zu den grundlegenden rechtsstaatlichen Anforderungen an die Verurteilung einer Bürgerin oder eines Bürgers gehört, dass er die tatsächlichen Grundlagen seiner Verurteilung zur Kenntnis nehmen, sie in Zweifel ziehen und sie nachprüfen darf. Das gilt nicht nur in Fällen strafrechtlicher Sanktionen, sondern stets. Staatliches Handeln darf, so gering belastend es im Einzelfall sein mag, und so sehr ein Bedarf an routinisierten Entscheidungsprozessen besteht, in einem freiheitlichen Rechtsstaat für die Bürgerin und den Bürger nicht undurchschaubar sein; eine Verweisung darauf, dass alles schon seine Richtigkeit habe, würde ihn zum unmündigen Objekt staatlicher Verfügbarkeit machen. Daher gehören auch die grundsätzliche Nachvollziehbarkeit technischer Prozesse, die zu belastenden Erkenntnissen über eine Bürgerin oder einen Bürger führen, und ihre staatsferne Prüfbarkeit zu den Grundvoraussetzungen freiheitlich-rechtsstaatlichen Verfahrens.

Saarl. VerfG a. a. O.

Abschließend weise ich noch darauf hin, dass die Problematik der Nichtzurverfügungstellung von Rohmessdaten keine ist, die ausschließlich das Messsystem Traffistar S350 betrifft. Das Amtsgericht St. Ingbert hatte mit Urteil vom 26.4.2017 – 2 OWi 379/16 – die nachträgliche Löschung der Rohmessdaten bei dem Messgerät Leivtec XV3, das im Saarland sehr verbreitet ist, bemängelt und den Betroffenen freigesprochen.

Zum ESO ES 3.0:

https://rechtsanwalt-weiser.de/raweiser/eso-es-3-0-freispruch/