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Archiv: 25. Mai 2016

Haftungsverteilung beim Verkehrsunfall: Linksabbieger und Überholer

Anlässlich des Eintreffens der aktuellen Auflage des Werkes „Schadensverteilung bei Verkehrsunfällen – Rechtsprechungssammlung mit Skizzen und Haftungsgrundlagen“ (Paul Kuhn, 9. Auflage 2016) habe ich mich entschlossen, eine neue Beitragsreihe zu diesem  Thema zu gründen.

Die Haftungsverteilung bei einem Verkehrsunfall ist für den Laien meines Erachtens ein Buch mit sieben Siegeln. Zudem werden grundsätzliche Begriffe, allen voran der Begriff des Anscheinsbeweises, häufig fehlinterpretiert („Wer auffährt, ist immer schuld.“).

Die Haftungsverteilung ist bei jedem einzelnen Verkehrsunfall anhand des konkreten Geschehensablaufs zu beurteilen. Die in der Reihe „Haftungsverteilung“ dargestellten Fälle sind beispielhafte Einzelfälle. Zur besseren Veranschaulichung und völligen Verwirrung des Lesers werde ich gelegentlich, so auch nachfolgend, widerstreitende Urteile zitierten. Dies soll das Verständnis dafür fördern, wie wichtig eine einzelfallbezogene Betrachtung ist.

Direkt zur ersten Fallkonstellation:

Abbiegen – Kollision mit Linksüberholer

Ein Fahrer der beim Linksabbiegen in ein Grundstück ein ihn gerade auf der linken Spur überholendes Fahrzeug übersieht, haftet zu 50 %. Dem Abbieger ist eine Mithaftung vorzuwerfen, weil er gegen die Verpflichtung zur zweiten Rückschau verstoßen und den Überholer übersehen hat. Der Überholer haftet ebenfalls zu 50 % wegen Überholens bei unklarer Verkehrslage. (OLG Karlsruhe r+s 1988, 71)

Demgegenüber nimmt das OLG Saarbrücken eine Alleinhaftung des Abbiegenden an, der sich nicht rechtzeitig in die Abbiegespur eingeordnet hat.

In einer weiteren Entscheidung kommt das OLG Saarbrücken zu einer Haftungsverteilung von 75 : 25 zu Lasten des Abbiegenden. In diesem Fall hatte der Abbiegende zwar weder seine Bereitschaft zum Abbiegen – etwa durch Einordnen in die Fahrbahnmitte oder durch Setzen des linken Blinkers – angezeigt, allerdings hatte er seine Geschwindigkeit erheblich verlangsamt und ein Stück weit nach rechts ausgeschert. Das OLG Saarbrücken wirft dem Überholer in dieser Konstellation vor, dass er sich auf das Verhalten des Vordermanns hätte einstellen müssen und nicht überholen dürfen. Daher hält es eine Mithaftung des Überholenden wegen unklarer Verkehrslage begründet.

OLG Nürnberg: Der Abbieger haftet zu 100 %, da für den Überholer keine unklare Verkehrslage bestand. Grund: Der Abbieger konnte nicht nachweisen, dass er geblinkt hatte.

OLG Celle: Der Abbiegende darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass der Vorausfahrende, der sich auf einer Geradeausspur befindet, auch geradeaus fährt und nicht abbiegt. Haftung des Abbiegenden: 100 %.

OLG Naumburg – Kein Fahrverbot bei Übersehen eines Tempo 30 – Schildes

Das Oberlandesgericht Naumburg hat entschieden, dass ein Fahrverbot nicht in Betracht kommt, wenn der Betroffene ein Tempo 30 – Schild innerhalb der geschlossenen Ortschaft aufgrund einer momentanen Unaufmerksamkeit schlicht übersehen hat. Es hat das mit der Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft angegriffene Urteil des Amtsgerichts Haldensleben, das ebenfalls von einem Augenblicksversagen ausging, gehalten.

Aus den Entscheidungsgründen:

Die Wertung des Amtsgerichts ist nicht zu beanstanden. Ein im nahen örtlichen Zusammenhang mit dem Ortsschild aufgestelltes Verkehrsschild, durch welches die zulässige Geschwindigkeit auf 30 km/h begrenzt wird, kann leicht übersehen werden.

Es bedurfte hier entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft auch nicht, wie im Regelfall beim Absehen von einem Fahrverbot wegen Übersehens einer Geschwindigkeitsbegrenzung, keiner Ausführungen dahingehend, ob sich aufgrund der örtlichen Gegebenheiten für den Betroffenen eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h aufdrängen musste.

Aus dem Urteil ergibt sich nämlich, dass die Geschwindigkeitsbegrenzung nicht wegen der örtlichen Gegebenheiten des Straßenabschnitts angeordnet worden war, sondern allein aufgrund der Tatsache, dass der Straßenabschnitt von Ortskundigen wegen einer Teilsperrung der aus dem Ort F. heraus führenden L … anstelle einer ausgeschilderten weiträumigen Umleitung genutzt wurde, also vorübergehend das Verkehrsaufkommen erhöht war. Deswegen bestand die Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h auch nur vom 6. Oktober bis zum 7. November 2014, also gut einen Monat. Deshalb gab es offensichtlich keine für den Betroffenen wahrnehmbare Umstände, aufgrund derer sich die Begrenzung auf 30 km/h aufdrängte.

Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde war hier trotz des Absehens von der Verhängung des Regelfahrverbots auch keine Erhöhung der Regelgeldbuße angezeigt, weil eine solche bei Augenblicksversagen nicht in Betracht kommt.