Es geht auch ohne teure Gutachten!
So könnte man das Urteil des BGH vom 23.6.2020 – VI ZR 435/19 zusammenfassen.
HWS-Distorsionen (umgangssprachlich: Schleudertraumata) sind typische Verletzungsfolgen eines Verkehrsunfalles. In der Rechtsprechung und Literatur sind sie äußerst umstritten. Nicht selten muss das Schmerzensgeld wegen einer HWS-Distorsion eingeklagt werden.
In aller Regel kommt es dann zu zwei Begutachtungen. Im Rahmen der ersten Begutachtung wird ein biomedizinisches Gutachten erstellt zur Ermittlung, von welcher „Aufprallgeschwindigkeit“ (sehr vereinfacht ausgedrückt) ausgegangen werden muss. Sodann wird in einem zweiten, medizinischen Gutachten – meist durch Untersuchung der Geschädigten und durch Prüfung der vorgelegten ärztlichen Befunde – ermittelt, ob eine HWS-Distorsion aus medizinischer Sicht vorgelegen hat bzw. vorgelegen haben kann.
Die Begutachtungen kosten den Unterlegenen – in der Regel die Versicherungswirtschaft – des jeweiligen Rechtsstreites mehrere Tausend Euro.
Dass es auch ohne Begutachtung geht, hat der BGH in seiner aktuellen Entscheidung dargelegt. In diesem Fall war der Beweis, dass eine HWS-Distorsion eingetreten war, zwar nicht erbracht. Der BGH hat aber auf Folgendes hingewiesen:
„Der angefochtenen Entscheidung liegt die rechtsfehlerhafte Auffassung zugrunde, dass sich eine unfallbedingte Körperverletzung nur dann feststellen ließe, wenn die Klägerin die von ihr behauptete HWS-Distorsion beweisen könnte. Das Berufungsgericht hat verkannt, dass auch die von der Zeugin W. bekundeten starken Nacken-und Kopfschmerzen als Primärverletzung in Betracht kommen können, und deshalb Feststellungen dazu unterlassen, ob diese Schmerzen unfallbedingt waren und zur Arbeitsunfähigkeit der Zeugin W. geführt haben.“ (BGH Urteil vom 23.6.2020 – VI ZR 435/19)
Mit anderen Worten: Die HWS-Distorsion steht zwar nicht fest. Es genügt aber, dass der Geschädigte das Gericht davon überzeugt, dass er starke Schmerzen hatte. Primärverletzungen sind eben die starken Nacken. Und Kopfschmerzen.
Hintergrund des Prozesses war eine Arbeitgeberregressklage, so dass die eigentliche Geschädigte als Zeugin vernommen wurde. Für den Geschädigten, der selbst auf Schmerzensgeld klagt, gilt aber das gleiche. Es muss in Zukunft verstärkt darauf gedrängt werden, das Gericht, vor allem mittels informatorischer Anhörung oder Parteivernehmung des Geschädigten dazu zu bewegen, sich – auch ohne Gutachten – von dem Vorhandensein entsprechender Schmerzsymptome zu überzeugen.
Lesenswert zum Thema „richterliche Überzeugung vom Vorliegen eines HWS-Schleudertraumas“: OLG Saarbrücken Urt. v. 28.2.2013 – 4 U 587/10.
Die Begutachtungen in den Schleudertrauma-Fällen sind ein großes Ärgernis. Sie verschlingen Unsummen an Geldern der Versichertengemeinschaft und zudem sind sie für die Geschädigten, die Monate nach einem Unfall noch ärztlich „untersucht“ werden sollen, belastend.