Seit Jahren ist es, infolge der VW-Entscheidung des BGH (Urt. v. 20.10.2009 – VI ZR 53/09), ständige Regulierungspraxis bei der sogenannten fiktiven Abrechnung:
Der Geschädigte möchte sein Fahrzeug nicht oder günstiger als im Haftpflichtgutachten berechnet reparieren. Er rechnet fiktiv ab und beansprucht die Reparaturkosten netto gemäß des von ihm vorgelegten Haftpflichtgutachtens. Der Kfz-Haftpflichtversicherer des Schädigers kürzt den Anspruch, indem er dem Geschädigten einen sogenannten Prüfbericht zusendet. Häufig werden die Kürzungen darauf gestützt, dass die Reparatur in einer vom Haftpflichtversicherer benannten Werkstatt, sog. Verweiswerkstatt, günstiger sei als im Gutachten berechnet.
Bezüglich der Zulässigkeit des Verweises stellen sich viele Fragen. Häufig in der Praxis nicht beachtet, wird, dass sich auch in dieser Verweiswerkstatt regelmäßig die Preise ändern. Viele telefonische Nachfragen der letzten Jahre haben in meiner Praxis gezeigt, dass die Stundenverrechnungssätze im Prüfgutachten falsch waren und nicht selten wurden Preisaufschläge auf die Ersatzteile erhoben, die ebenfalls zu Unrecht gekürzt worden waren.
Ein spezielles Problem dieser Verweisproblematik hat der BGH nun geklärt und zwar die Frage, welcher Zeitpunkt für die Reparaturkostenberechnung in der Verweiswerkstatt maßgeblich ist.
Beispiel: Unfallzeitpunkt soll der 19.11.2019 sein. Der Geschädigte legt Ende November 2019 ein Gutachten vor, welches Reparaturkosten netto von 4.000,00 Euro ausweist. Der Prüfbericht mit Benennung der Verweiswerkstatt wird am 15.12.2019 vorgelegt. Der Verweis soll in diesem Beispiel zulässig sein. Der Versicherer kürzt die Reparaturkosten wegen der günstigeren Stundenverrechnungssätze (= „Stundenlöhne“) netto um 500,00 Euro und überweist dem Geschädigten 3.500,00 Euro. Zum 1.1.2020 erhöht die Verweiswerkstatt ihre Stundenverrechnungssätze. Auf Basis der Stundenverrechnungssätze, die ab dem 1.1.2020 gelten, ergeben sich Reparaturkosten in der Verweiswerkstatt von 4.500,00 Euro, also 500,00 Euro mehr als im Gutachten ausgewiesen.
Mitte Januar 2020 erhebt der Geschädigte Klage. Am 1.1.2021 erhöht die Verweiswerkstatt erneut die Stundenlöhne. Es ergeben sich ab dem 1.1.2021 sogar 4.700,00 Euro Reparaturkosten. Die letzte mündliche Verhandlung vorm Amtsgericht findet am 20.1.2021 statt. Das Fahrzeug hat der Geschädigte nicht repariert.
Das LG Saarbrücken hat in der Vorinstanz auf den Zeitpunkt des Unfalls abgestellt. Somit wäre die Berechnung des Versicherers korrekt und der Geschädigte müsste sich den Abzug vonn 500,00 Euro gefallen lasen. Anders der BGH:
„Wie im Ausgangspunkt vom Berufungsgericht zutreffend gesehen, ist der materiell-rechtlich maßgebliche Zeitpunkt für die Bemessung des Schadensersatzanspruchs in Geld …
der Zeitpunkt, in dem dem Geschädigten das volle wirtschaftliche Äquivalent für das beschädigte Recht zufließt, also der Zeitpunkt der vollständigen Erfüllung. …Verfahrensrechtlich ist, wenn noch nicht vollständig erfüllt ist, der prozessual letztmögliche Beurteilungszeitpunkt, regelmäßig also der Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung, maßgeblich. … Diese Grundsätze dienen in erster Linie dem Schutz des Gläubigers gegen eine verzögerte Ersatzleistung des Schuldners. Zusätzliche Schäden und eine Verteuerung der Wiederherstellungskosten vor vollständiger Erfüllung, etwa durch Preissteigerungen, gehen deshalb in der Regel zu dessen Lasten. (BGH, Urt. v. 18.2.2020 – VI ZR 115/19)
Im Beispielsfalle müsste das Gericht dem Geschädigten also 4.700,00 Euro zusprechen.