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Archiv: 26. September 2018

OLG Saarbrücken räumt Kfz-Haftpflichtversicherern das Recht zur unbegründeten Nachbesichtigung des Geschädigtenfahrzeugs ein

Das OLG Saarbrücken hat entschieden:

Erkennt der Kraftfahrt-Haftpflichtversicherer, dem die Nachbesichtigung eines Kraftfahrzeugs auf eigene Kosten trotz begründeter Zweifel an einem vom Geschädigten vorgelegten Privatgutachten verwehrt wurde, den Anspruch nach Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens innerhalb der vom Gericht gewährten Frist zur Stellungnahme an, ist im Einzelfall § 93 ZPO zu Lasten des Klägers anzuwenden. (OLG Saarbrücken, Beschluss vom 29.05.2018 – 4 W 9/18)

Mit anderen Worten hat das OLG Saarbrücken damit ein Recht des Kfz-Haftpflichtversicherers postuliert, das Geschädigtenfahrzeug ohne Angabe von Gründen zu besichtigen. Das entspricht – wie der Senat auch selbst ausführt – nicht gerade der bislang gefestigten Rechtsprechung, die verlangt, dass der Kfz-Haftpflichtversicherer begründete Zweifel am vom Geschädigten vorgelegten Gutachten vortragen muss.

Im Streitfall hatte der Versicherer den Geschädigten ohne Angabe von Gründen aufgefordert, die Fahrzeugnachbesichtigung durch einen vom Versicherer beauftragten Sachverständigen zu ermöglichen.

Das hatte der anwaltlich vertretene Geschädigte mit der wohl bislang überwiegenden Rechtsprechung abgelehnt und sich auf das von ihm vorgelegte Privatgutachten berufen.

Da der Versicherer nicht zahlte, reichte der Geschädigte Klage ein. Im Rahmen des Zivilprozesses wurde das Fahrzeug des Geschädigten von einem gerichtlich bestellten Sachverständigen begutachtet mit dem Ergebnis, dass das vom Geschädigten vorgelegte Privatgutachten  fehlerhaft war. Die Schadenshöhe wurde daraufhin deutlich reduziert.

Der Versicherer hat nach Vorliegen des Gerichtsgutachtens  ein sofortiges Teilanerkenntnis in Höhe der berechtigten Forderung erklärt, sich aber gegen die Kostentragung verwahrt.

Das Landgericht Saarbrücken hat dem Geschädigten nach § 93 ZPO die vollen Kosten des Rechtsstreits auferlegt, obwohl er in der Sache teilweise gewonnen hat. Da der Geschädigte die Nachbesichtigung des Fahrzeugs grundlos verweigert habe, sei die Klage nicht veranlasst gewesen.

Diese Entscheidung hat das OLG Saarbrücken nun bestätigt. Aus den Gründen:

In Rechtsprechung und Schrifttum ist zwar grundsätzlich anerkannt, dass dem Kraftfahrthaftpflichtversicherer regelmäßig kein Anspruch auf Nachbesichtigung des unfallgeschädigten Fahrzeuges zusteht (LG München I ZfSch 1991, 123: etwas Anderes könne allenfalls dann gelten, wenn z. B. ein Verdacht auf betrügerische Geltendmachung von Unfallschäden vorliege und behauptet werde, dass Vorschäden verschwiegen worden seien; LG Kleve ZfSch 1999, 239, 240; AG Rostock ZfSch 2000, 151, 152: „regelmäßig“ kein Anspruch; Jaeger VersR 2011, 50; Dötsch ZfSch 2013, 63). Im Rahmen des gesetzlichen Schuldverhältnisses zwischen dem Geschädigten und dem gegnerischen Haftpflichtversicherer sind aber auch dem Erstgenannten in Grenzen Pflichten zur Rücksichtnahme auf den Haftpflichtversicherer bei der Schadensfeststellung auferlegt, deren Verletzung über prozessuale Nachteile für die Durchsetzung der eigenen Schadensersatzansprüche hinaus sogar unter besonderen Umständen zum Ersatz von Schäden des Versicherers verpflichten kann (BGH VersR 1984, 79). Kann der Haftpflichtversicherer begründete Zweifel an der Richtigkeit des vom Geschädigten vorgelegten Privatgutachtens haben, verstößt der Geschädigte gegen die ihm obliegende Rücksichtspflicht, wenn er dem vom Haftpflichtversicherer beauftragten Sachverständigen, ohne einen berechtigten Grund zu haben, die Besichtigung des Fahrzeugs verwehrt (vgl. BGH VersR 1984, 79). (OLG Saarbrücken Beschluss vom 29.05.2018 – 4 W 9/18)

Das Neue und für den Geschädigten Nachteilhafte an dieser Entscheidung ist, dass das OLG Saarbrücken darauf abstellt, ob der Haftpflichtversicherer begründete Zweifel am Privatgutachten des Geschädigten haben durfte oder nicht. Unerheblich soll sein, ob er diese dem Geschädigten vorgerichtlich auch zur Kenntnis gebracht hat.

Das hat der Senat wie folgt begründet:

Die Beschwerde verweist weiter darauf, von Seiten der Beklagten seien in keinem Zeitpunkt konkrete Zweifel an dem Schaden bzw. an dessen Höhe vorgetragen worden (Bd. I Bl. 192 d. A.). Diese Erwägung greift zu kurz. Auf Grund des Nachbesichtigungsverlangens lag es für die klagende Partei auf der Hand, dass die Regulierungsbeauftragte das Privatgutachten nicht für überzeugend hielt. Die Regulierungsbeauftragte war darüber hinaus nicht gehalten, zur Begründung der Nachbesichtigung konkrete Zweifel an dem Schaden bzw. an dessen Höhe vorzutragen. Würden schon beim Nachbesichtigungsverlangen als solchem Begründungsanforderungen gestellt, würde der Streit um die Begründetheit des Verlangens in den außergerichtlichen Zeitraum vorverlagert, in dem eine verbindliche Entscheidung über die Begründetheit gerade nicht möglich ist. Ein grundloses, dilatorisches Verhalten des gegnerischen Haftpflichtversicherers ist im Allgemeinen nicht zu besorgen, weil dieser, wie oben ausgeführt, die Beweislast für die fehlende Klageveranlassung und damit das Risiko der Unbegründetheit der geltend gemachten Zweifel trägt. Zudem ist unter Berücksichtigung der langjährigen Erfahrungen des Senats im Rahmen der Spezialzuständigkeit für Verkehrsunfallsachen nicht zu erkennen und nicht zu erwarten, dass Haftpflichtversicherer das für sie kostenpflichtige Nachbesichtigungsverlangen aus sachfremden Erwägungen, insbesondere zur Verzögerung der Regulierung, einsetzen würden. Dem Geschädigten kommt als möglichem Inhaber von Schadensersatzansprüchen eine rasche Aufklärung des Sachverhalts, an der er kraft Gesetzes aktiv mitwirken soll, stets zugute (MünchKomm-​VVG/Schneider, 2. Aufl. § 119 Rn. 25). Etwaige Rechtsunsicherheiten kann auch er vermeiden, indem er eine kurzfristige Nachbesichtigung ermöglicht.

Fazit: Für die Unfallregulierung im Zuständigkeitsbereich saarländischer Gerichte bedeutet dieser Beschluss eine Kehrtwende. Für mich, als ebenfalls langjährig im Verkehrsrecht tätigen Rechtsanwalt, ist auch verständlich, dass der Senat den Haftpflichtversicherern nichts Böses unterstellen mag und in deren Nachbesichtigungsbegehren allein redliche Absichten erkennen kann.

Das liegt daran, dass sich Haftpflichtversicherer im Prozess völlig anders verhalten als vorgerichtlich. Man muss sich doch nur fragen, warum von Seiten des Haftpflichtversicherers im konkreten Fall vorgerichtlich kein einziges Wort zu den konkreten Zweifeln am Gutachten gefallen ist, während in der Klageerwiderung dann umfangreicher Vortrag zu diesen Zweifeln erfolgte!

Es hätte im konkreten Fall sicherlich genügt, wenn der Haftpflichtversicherer vorgerichtlich in einem Satz vorgetragen hätte, dass die Feststellungen des Gutachtens nicht mit dem Polizeibericht in Einklang zu bringen sind. Das war wohl auch der Fall.

„Ein grundloses, dilatorisches Verhalten des gegnerischen Haftpflichtversicherers ist im Allgemeinen nicht zu besorgen, weil dieser, wie oben ausgeführt, die Beweislast für die fehlende Klageveranlassung und damit das Risiko der Unbegründetheit der geltend gemachten Zweifel trägt.“ (OLG Saarbrücken a. a. O.)

Dieser Satz weist zum einen ein Bild vom Regulierungsverhalten von Haftpflichtversicherern auf, das ich aufgrund eigener langjähriger Tätigkeit im Bereich der Unfallregulierung so nicht unbedingt teilen kann. Zum anderen ist es bedenklich, anzunehmen, den Versicherer träfe das (alleinige) Risiko der Unbegründetheit der Klage. Wie der Beschluss des Senates selbst zeigt, musste doch der Geschädigte letztlich die Kosten des Verfahrens getragen. Ihn trifft selbstverständlich – ebenso wie den Versicherer – das Prozesskostenrisiko. Der Unterschied besteht  darin, dass das den Sachbearbeiter des Haftpflichtversicherers, der über die Regulierung entscheidet, überhaupt nicht zu interessieren braucht. Er haftet ja nicht persönlich, der nicht rechtsschutzversicherte Geschädigte allerdings sehr wohl.

Spurwechsel vs. Auffahrunfall und Bedeutung einer Zeugenaussage im Prozess – OLG München

Die Situation ist ein Klassiker im Bereich der Unfallregulierung.

Es kommt zu einem Unfall. Einer der am Unfall beteiligten Fahrer – Fahrer A – behauptet, der andere sei ihm von hinten aufgefahren. Der andere Fahrer – Fahrer B – trägt einen Spurwechsel des Vordermannes vor.

Das Oberlandesgericht München hat nun zu Gunsten des Fahrers B, der den Spurwechsel behauptet hatte, entschieden. Es hat ihm 100 %-igen Schadensersatz zugesprochen, weil der Anscheinsbeweis des Spurwechsels greife, nicht aber der Anscheinsbeweis des Auffahrens.

Zusammengefasst hat der Spurwechsler vorliegend den Prozess verloren, weil das unfallanalytische Sachverständigengutachten seine Unfalldarstellung ausschließen konnte. Es lag ein seitlicher Anstoß vor.  Zudem war die Zeugenaussage widersprüchlich.

Die Leitsätze des Urteils:

1. Steht die Kollision zweier Kraftfahrzeuge in einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Wechsel des Fahrstreifens, so spricht der Anscheinsbeweis für die Missachtung der Sorgfaltspflichten, die für den Fahrstreifenwechsler gelten, wobei die Haftungsabwägung regelmäßig zu dessen Alleinhaftung führt. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)

2. Wer mit seinem Kraftfahrzeug auf ein vorausfahrendes oder vor ihm stehendes Kraftfahrzeug auffährt, hat den Anscheinsbeweis gegen sich, wonach er entweder nicht den nötigen Sicherheitsabstand eingehalten hat, mit unangepasster Geschwindigkeit gefahren ist oder falsch reagiert hat. Eine bloße Teilüberdeckung der Fahrzeugschäden an Heck und Front lässt nicht auf einen atypischen Geschehensablauf schließen. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)

3. Der Aussage eines Zeugen kommt keine zwingende prozessrechtliche Priorität vor der Anhörung einer Partei im Rahmen des § 141 ZPO oder auch nur dem Prozessvertrag der anderen Seite zu (vgl. BGH BeckRS 9998, 165994). (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz) (OLG München, Urt. v. 13.7.2018 – 10 U 1856/17)

Das Urteil finden Sie im Volltext hier:

OLG München, Endurteil v. 13.07.2018 – 10 U 1856/17

Grundsätzlich hat sich der Bundesgerichtshof zur Beweislastverteilung in seinem Urteil vom  13.12.2016 – VI ZR 32/16 – geäußert:

https://rechtsanwalt-weiser.de/raweiser/bgh-zu-auffahrunfall-und-spurwechsel/

Das Urteil des Oberlandesgerichts München ist aber nicht nur wegen der überzeugenden Ausführungen zur Haftungsverteilung bzw. zum Durchgreifen des Anscheinsbeweises – in diesem Falle gegen den Spurwechsler – lesenswert.

Es räumt auch gründlich mit der weit verbreiteten Fehlvorstellung auf, dass derjenige, der „einen Zeugen hat“, den Prozess gewinnt. Diese immer noch vielfach von Mandanten geäußerte Auffassung ist falsch.

Und das gilt nicht nur, wenn sich der Zeuge, wie im Falle des OLG München, widersprüchlich äußert. Gerade bei einem Verkehrsunfall ist zu beachten, dass die Parteien in der Regel informatorisch angehört und im Einzelfall gegebenenfalls auch als Partei vernommen werden.

Das OLG München stellt diesbezüglich noch einmal unzweifelhaft klar:

Der Aussage eines Zeugen kommt keine zwingende prozessrechtliche Priorität vor der Anhörung einer Partei im Rahmen des § 141 ZPO oder auch nur dem Prozessvertrag der anderen Seite zu (vgl. BGH BeckRS 9998, 165994). (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz) (OLG München a. a. O.)

Folge ist übrigens, dass bei streitigem Unfallhergang fast ausnahmslos verkehrsunfallanalytische Gutachten eingeholt werden.